Liebe Leserinnen und Leser,
…ich war mein Leben lang zu blöd, mir Zigaretten selbst zu drehen. Wurde mir auf die Frage „Haste mal ne Kippe?“ ein Tabakpäckchen hingehalten, musste ich dankend anlehnen – oder den Spender bitten, meine feinmotorischen Defizite durch eigenes Tun auszugleichen. Umso größer war meine Bewunderung für all jene, die mit wenigen Fingerbewegungen eine brauchbare Fluppe herstellen konnten. Etwa für den Mann, der 1992 an einem warmen Juli-Abend auf dem Rasen am Wolfsburger Elsterweg schlenderte und dabei über das Spiel sinnierte, das auf diesem Rasen gerade zu Ende gegangen war. Ob er zufrieden sei, fragte ich ihn. Er benetzte kurz die dafür vorgesehene Stelle des Zigarettenpapiers, finalisierte mit einer kurzen Fingerbewegung sein Werk und antwortete, bevor er sich die Selbstgedrehte in den Mund steckte: „Natürlich nicht.“
Nein, mit dem 3:3 beim VfL Wolfsburg konnte Volker Finke, Trainer des SC Freiburg an diesem Tag nicht zufrieden sein. Immerhin war sein Team großer Zweitliga-Favorit – und der VfL war Aufsteiger und Profifußball-Frischling. Der Star des SC war sein Trainer, weil er ein besonderer Typ war. Er hatte nicht nur als Gemeinschaftskunde-Lehrer gearbeitet, er sah auch immer noch aus wie einer. Heute wären Fußballlehrer, die sich auf Stadionrasen ihre Kippe drehen, eine Sensation, schon damals war Finke eine besondere Figur. Er stand für einen Verein, der immer etwas Besonderes war und den stets so eine Art linksalternativ-intellektuelle Öko-Aura umgab. Studentenklub wurde er genannt, was SC-Torwart Richard Golz mal zu dem Spruch inspirierte: „Vor lauter Philosophieren über Schopenhauer kommen wir gar nicht mehr zum Trainieren.“
Der SC Freiburg,
am Sonntag Gegner des VfL Wolfsburg in der VW-Arena, ist ein besonderer Klub geblieben, auch wenn dort niemand mehr Selbstgedrehte raucht. Nachwuchsförderung, Nachhaltigkeit und eine selbst in sportlich turbulenten Zeiten sichtbare Unaufgeregtheit bilden die Grundlage für eine spezielle Vereinsidentität. Und dass nach Finkes 16 Trainerjahren (Rekord im deutschen Profifußball) nun Christian Streich bereits seit neun Jahren auf der längst rauchfreien Freiburger Bank sitzt, zeigt den für mich wichtigsten Unterschied zwischen dem SC und allen anderen Klubs: In Freiburg werden Trainer nicht einmal bei Abstieg entlassen. Das macht die Idee von sportlicher Nachhaltigkeit glaubwürdiger als alles andere.
Für den VfL geht es am Sonntag darum, seinen enorm positiven Lauf fortzusetzen und weiter in den Champions-League-Rängen der Bundesliga zu bleiben. Für die, die Fußball hauptsächlich aus Spaß spielen, geht es um eine vielleicht sogar noch wichtigere Frage: Spielen wir überhaupt wieder? Wenn ja, wann? Und unter welchen sportlichen Bedingungen?
Der niedersächsische Fußball-Verband hat sich in dieser Woche dazu geäußert. Die Diskussionen, die das mit sich bringen wird, werden wir in der AZ/WAZ und im SPORTBUZZER intensiv verfolgen.
Ebenso intensiv werden wir den Weg von Almuth Schult weiter begleiten. Die Torfrau des VfL und der deutschen Nationalmannschaft ist nach Schulter-OP und Geburt ihrer Zwillinge wieder zurück auf dem Platz –
und formuliert ihren sportlichen Ehrgeiz in gewohnt klaren Worten. An die Nationalmannschaft will sie erst denken, wenn sie im Verein wieder Top-Leistungen bringt, das ist vernünftig. Wir dürfen einen Schritt weiterdenken, darum hier schon einmal meine unverbindliche Mutmaßung: Wenn 2022 die Frauen-EM gespielt wird, steht Schult im deutschen Tor. Sie wäre dann erst die zweite deutsche Nationalspielerin, die als Mutter auf dem Platz steht, die erste war die aktuelle Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg. Und Schult wird, davon ist ganz sicher auszugehen, „nebenbei“ auch noch eine ganz wichtige Diskussion erheblich befeuern: Wie schaffen Verband und Vereine gute Rahmenbedingungen für Mütter im Leistungsfußball?